Derzeit bin ich dabei, mich auf eine besondere Reise vorzubereiten: Am Freitag, den 25.September werde ich nach Süd-Brasilien reisen, genauer: Nach Turucu. Ich habe schon früher und an anderen Stellen über mein Engagement für Kinder und Jugendliche aus den ärmsten Familien dort berichtet (z.B. hier). Wobei mein Engagement sich meist auf eine Begleitung aus der Ferne beschränkt.

Meine Freundin und Kollegin Elsa Timm ist diejenige, die in den letzten zehn Jahren in dieser kleinen Stadt Turucu mit ihrem Engagement und ihrer Kompetenz wirklich Erstaunliches bewirkt hat. So verhungert z.B. kein Kind mehr – keine Selbstverständlichkeit in Turucu. Jugendliche haben die Chance auf eine Ausbildung. Es gibt eine Baumschule, die einheimische Bäume anpflanzt, um den Urwald zu schützen. Und vieles mehr. Das alles war am Anfang ganz, ganz anders.


Viele Familien lebten und leben in solchen Hütten – zugig und undicht und voller Ungeziefer. Kein guter Ort zum Leben. Nicht für Erwachsene, aber erst recht nicht für Kinder.

Elsa wurde dabei von der langjährigen Bürgermeisterin Selmira (in Brasilien benutzt man nur die Vornamen) unterstützt. Selmira hat ihr ermöglicht, immer mehr Projekte ins Leben zu rufen, in dem sie das Personal dafür zur Verfügung gestellt und auch sonst sehr unterstützend war.

So gab es im Laufe der Zeit ein ganzes Team an Sozialarbeitern, Erziehern etc., die sich ebenfalls engagiert und kompetent und die Belange der Ärmsten gekümmert haben.


Elsa Timm (mitte), ihre frühere Stellvertreterin (links) und ihr früherer Sozialarbeiter (rechts)

Die anderen Mitarbeiter kenne ich nicht so gut, aber von Elsa weiß ich, dass ihr Engagement manchmal über ihre Kräfte geht, sie sich aber nie schont und erst recht nie beschwert. Im Gegenteil. Sie ist dankbar dafür, helfen zu können und gibt oft noch einiges von ihren bescheidenen Einkünften ab, damit eine Familie etwas zu essen bekommt.

Finanziert wurden alle Projekte über Spendengelder, die vom Verein Hilfe zur Selbsthilfe ehrenamtlich verwaltet und immer wieder großzügig ergänzt wurden. Außerdem prüft dieser Verein mit strengen Rahmenbedingungen, ob das Projekt noch den eigenen Kriterien entspricht (z.B. darf keinerlei Geld in Verwaltung fließen, alles muss den Kindern und Jugendlichen zu Gute kommen).

Das ist eine Kinder-Gruppe im „Kinderhaus“, das komplett mit Spendengeldern aus Deutschland gebaut und ausgestattet wurden. Seit es existiert, können Kinder mittelloser Eltern hier tagsüber untergebracht werden. Sie bekommen regelmäßige Mahlzeiten, werden regelmäßig Ärzten zur Vorsorge vorgestellt und werden pädagogisch betreut. Die gesamte personelle Ausstattung wird von der Stadt Turucu übernommen. Im Kinderhaus können bis zu acht Kinder auch für längere Zeit leben, wenn sie z.B. kein Zuhause haben, von Eltern mißhandelt werden etc. Das Kinderhaus ist auch ein Segen für die Eltern, die oft selbst noch Jugendliche sind und durch die Betreuung ihrer Kinder die Möglichkeit bekommen, weiter zur Schule zu gehen und eventuell aus dem Teufelskreis der Armut auszusteigen.

Ich habe das Projekt immer wieder regelmäßig besucht und stehe auch in regem Mail-Austausch mit Elsa (darüber schreibe ich in einem gesonderten Blog).

Tja. Und nach all diesen erfolgreichen Jahren ist nun seit Anfang diesen Jahres der Wurm drin. Denn Bürgermeisterin Selmira konnte sich nach zwei Amtsperioden nicht mehr zur Wahl stellen. Und so wurde Ende November 2008 der Kandidat der gegnerischen Partei gewählt, seit Januar 2009 hat er das Amt inne. Elsa hatte schon im Vorfeld berichtet, dass sie große Angst um die Projekte hätte, sollte er gewinnen.

Wenn man so will, kam es dann sogar noch schlimmer als befürchtet. Ivan Scherdien, so heisst der neue Bürgermeister, machte eine Art Machtkampf aus den Projekten. Die Entscheidungen gingen nun gegen Elsa, nicht mit ihr. Vielleicht war es auch einfach nur Unwissenheit und Unerfahrenheit.

Wie auch immer: Er entließ sämtliche Mitarbeiter der Projekte (außer Elsa, das ging nicht, weil ihr Vertrag an die Projekte geknüpft ist, die er nicht verlieren wollte), setzte inkompetente Menschen ein, denen er wohl einen Gefallen schuldete (diese Wahrnehmung mag nur eine Boshaftigkeit von mir sein, aber…). Durch den Druck des Vereins konnte Elsa dann zumindest durchsetzen, dass zumindest zwei oder drei ihrer erfahrensten Kräfte weiter arbeiten konnten. Immerhin.

Manche der Projekte liegen seit der Amtsübernahme durch Ivan Scherdien auch brach, so wie die überaus erfolgreiche Schreinerei, ein Projekt für arbeitslose Jugendliche und körperlich und psychisch behinderte Menschen.

Kürzlich schleppt Elsa mehrere 10kg Säcke Reis alleine, die für die Kinder gedacht waren. Der Bürgermeister hatte allen untersagt, ihr zu helfen – und hatte wohl gehofft, dass sie aufgibt. Das wird sie nicht, so wie ich sie kenne. Aber so kann es ja nicht weiter gehen.

Ich bin fassungslos und schockiert, dass ein Mensch, der doch die Armut um sich herum sehen muss, seine Macht so destruktiv mißbaucht. Davon abgesehen kann man sich auch wundern, dass er von genau den Menschen gewählt wurde, denen er jetzt schadet, aber das ist ein ganz anderes Thema.

Und wie um zu beweisen, dass ein Unglück selten allein kommt, kam dann Anfang des Jahres noch eine Naturkatastrophe dazu: Eine Überschwemmung zerstörte in wenigen Minuten viele der Hütten und das Eigentum von vielen der Bewohner von Turucu. Gerade in dieser Zeit wären funktionierende Projekte doppelt wichtig gewesen, aber so war es eben nicht.

Was in 10 Jahren aufgebaut wurde, konnte trotz allem glücklicherweise noch nicht wirklich zerstört werden, aber es geht in diese Richtung. Ich habe dem Verein geraten, keine Spenden nach Turucu zu senden, bis klar ist, was dort eigentlich los ist und vor allem, wei es dort weiter gehen kann.

Das ist der Grund für meine Reise: Ich muss und will alles mit eigenen Augen sehen, mit den Menschen sprechen und vor allem, mich mit mit Elsa zusammen setzen und beraten, welche Möglichkeiten es gibt. Vielleicht finden wir einen Weg, den Kindern und Jugendlichen der Region weiter zu helfen, die unabhängig von einer Stadt (mit regelmäßig wechselnden Bürgermeistern…) ist.

Denn die Macht von Einzelnen ist enorm, das hat mir die Erfahrung dieser Jahre gezeigt: Einzelne können unglaublich viel im Guten, aber auch im Negativen bewirken. Und wenn ich ein bißchen etwas dazu beitragen kann, dass die Wagschale wieder zum Guten kippt, dann will ich das auf jeden Fall versuchen.

Claudia Frey
Diplom-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin. Mehr ...

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